Lohnfortzahlung bei Krankheit

In unserer täglichen Beratungspraxis nehmen Fragen zur Lohnfortzahlung bei Krankheit einen Spitzenplatz ein. Erklärbar ist dies durch die Tatsache, dass das Schweizer Arbeitsvertragsrecht keine gesetzliche obligatorische Krankentaggeldversicherung analog der Unfallversicherung kennt. Zudem ist die gesetzliche Regelung in OR 324a relativ bescheiden ausgestaltet, weshalb viele Unternehmen zugunsten ihrer Mitarbeiter eigene, grosszügigere Regelungen haben, sei es Besserstellungen nach OR 324a/2 oder eine gleichwertige Regelung nach OR 324a/4, teilweise freiwillig, teilweise weil ein Gesamtarbeitsvertrag eine entsprechende Regelung vorsieht. Da diese individuellen Regelungen der Unternehmen oft unvollständig und/oder unklar sind, stellen sich häufig Auslegungsfragen. In der vorliegenden Ausgabe werden anhand des Urteils 4A_98/2014 des Bundesgerichts vom 10. Oktober 2014 die zwei im Gesetz vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten von der gesetzlichen Regelung erläutert und auf mögliche Probleme in der praktischen Anwendung aufmerksam gemacht.

Besserstellung nach OR 324a/2

Die gesetzliche Regelung der Lohnfortzahlung nach OR 324a/1 und 3 sieht vor, dass der Arbeitgeber bei einer unverschuldeten Arbeitsverhinderung des Arbeitnehmers infolge Krankheit den vollen Lohn während einer beschränkten Zeit je nach Dienstjahr zu bezahlen hat. In der Gerichtspraxis sind dazu Skalen entwickelt worden (Berner-, Zürcher- und Basler-Skala). Es handelt sich um relativ zwingende Bestimmungen, gegen die nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers verstossen werden darf. Gemäss OR 324a/2 besteht ausdrücklich die Möglichkeit, für den Arbeitnehmer günstigere Regelungen zu treffen, beispielweise die Dauer der Lohnfortzahlungspflicht zu verlängern, unterschiedliche Gründe nicht zusammenzurechnen oder die Übernahme der Lohnfortzahlung auch bei anderen als im Gesetz genannten Gründen der Arbeitsverhinderung. Dafür bedarf es nach Gesetz keiner besonderen Form, das heisst eine solche Vereinbarung kann auch mündlich oder sogar konkludent geschlossen werden. Letzteres ist z.B. der Fall, wenn gemäss betrieblicher Übung der Lohn regelmässig länger bezahlt worden ist.

Gleichwertige Regelung nach OR 324a/4

In der Praxis kommen abweichende gleichwertige Regelungen im Sinne von OR 324a/4 namentlich in Form von Lohnersatzleistungen durch Krankentaggeldversicherungen vor. Die Gleichwertigkeit ist gemäss Bundesgericht im Allgemeinen gegeben, wenn der Arbeitgeber eine Versicherung abschliesst, die 80% des Lohns während 720 innerhalb von 900 Tagen deckt, mit einer Karenzfrist von maximal 2-3 Tagen und hälftiger Prämienteilung. Solche vertragliche Regelungen, die den Arbeitnehmer verglichen mit der gesetzlichen Regelung im Einzelfall auch schlechter stellen, bedürfen zum Schutz der schwächeren Vertragspartei zwingend der Schriftform. Von der gesetzlichen Regelung kann nur durch schriftliche Abrede, Normal- oder Gesamtarbeitsvertrag gültig abgewichen werden. Bei der schriftlichen Abrede ist die eigenhändige Unterschrift beider Vertragspartner erforderlich und sie muss gemäss Bundesgericht die wesentlichen Punkte der Regelung (z.B. Höhe und Dauer der Lohnfortzahlung, versicherte Risiken, allfällige Karenzfrist, Finanzierungsanteil des Arbeitnehmers) enthalten. Dem Schriftformerfordernis ist auch Genüge getan, wenn im gegenseitig unterzeichneten Arbeitsvertrag ausdrücklich auf die allgemeinen Versicherungsbedingungen verwiesen wird, unter Vorbehalt der Ungewöhnlichkeitsregel, oder auf ein anderes dem Arbeitnehmer zur Verfügung stehendes Dokument.

OR 11/2 besagt, dass wenn über Bedeutung und Wirkung einer gesetzlich vorgeschriebenen Form nicht etwas anderes bestimmt ist, die Gültigkeit des Vertrags von deren Beobachtung abhängt. Nach der von der Lehre kritisierten Bundesgerichtspraxis ist unter Formungültigkeit einer Bestimmung deren absolute Nichtigkeit zu verstehen, die von Amtes wegen zu beachten ist. Unter Umständen – und restriktiv zu handhaben – kann jedoch die Geltendmachung des Formmangels auch rechtsmissbräuchlich sein.

Anwendungsfall

Das von beiden Arbeitsvertragsparteien unterzeichnete Anstellungsschreiben sah vor, dass die Arbeitgeberin für die Krankentaggeldversicherung einen Lohnabzug von 0,35% macht. Es enthielt jedoch keinen Verweis auf die allgemeinen Versicherungsbedingungen oder das Unternehmensreglement. Gemäss Unternehmensreglement hat der Mitarbeiter 50% der Prämie der Taggeldversicherung zu tragen und hat Anspruch auf die Bezahlung von 80% seines Lohnes während 720 Tagen. Die Arbeitgeberin hat eine kollektive Krankentaggeldversicherung abgeschlossen. Die allgemeinen Versicherungsbedingungen sahen die Auszahlung von maximal 90 Taggeldern (für Grenzgänger) über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus vor. Nach Ablauf der Sperrfrist infolge Krankheit hat die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitnehmer gekündigt. Zudem hat sie den Arbeitnehmer aufgefordert, beim Versicherer die Möglichkeit einer Verlängerung der Erwerbsausfalldeckung über das Vertragsende hinaus abzuklären. Der Arbeitnehmer blieb infolge Krankheit fast eineinhalb Jahre an der Arbeit verhindert. Die Taggeldversicherung bezahlte Taggelder bis 90 Tage nach Vertragsende und hat den Arbeitnehmer informiert, dass sie einen Grenzgänger nicht in die Einzelversicherung aufnehmen kann.

In der Folge klagte der Arbeitnehmer unter anderem auf Bezahlung von rund 65’000 Franken aufgrund mangelnder Versicherungsdeckung. Das Bundesgericht hat Folgendes erwogen: Die Beteiligung des Arbeitnehmers an der Prämienzahlung ist in der Regel das Indiz für eine abweichende Regelung. Es gilt jedoch festzuhalten, dass das Anstellungsschreiben die wesentlichen Punkte einer solchen Regelung nicht enthält und kein anderes Dokument einschliesst. Das Schriftformerfordernis ist deshalb nicht erfüllt, was weder von der kantonalen Instanz noch von der Arbeitgeberin geltend gemacht worden ist. Da keine schriftliche Abrede für eine gleichwertige Regelung nach OR 324a/4 vorlag, gilt es die gesetzliche Regelung während der beschränkten Zeit und anschliessend eine allfällige Besserstellung nach OR 324a/2 anzuwenden. Die Vereinbarung einer solchen Besserstellung konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Der Arbeitgeberin konnte auch kein Rechtsmissbrauch vorgeworfen werden. Somit bestand für den Arbeitnehmer kein zusätzlicher Lohnfortzahlungsanspruch. Nicht zu prüfen hatte das Bundesgericht die Frage, ob die allgemeinen Versicherungsbedingungen mit den strengeren Regeln für Grenzgänger den internationalen Vorschriften entsprechen.

Kommentar

Dieses Urteil könnte dazu verleiten, eine gleichwertige Regelung nach OR 324a/4 zu vereinbaren und das Schriftformerfordernis nicht einzuhalten, um dann in einem ähnlichen Fall keine weitergehende Lohnfortzahlungspflicht zu haben. Davon ist aber klar abzuraten, denn es ist gefährlich, von diesem konkreten Einzelfall auf andere Fälle zu schliessen. Im Gegenteil ist es empfehlenswert, eine explizite schriftliche Vereinbarung mit Einschluss der wesentlichen Punkte zu treffen und insbesondere auch festzuhalten, wenn während der Wartefrist der Versicherung nur 80% des Lohns bezahlt werden soll.

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