Nachwirkung eines Gesamtarbeitsvertrages

Lun, 3 novembre 2003

Nachwirkung eines Gesamtarbeitsvertrages

Im schweizerischen Recht gibt es keine Regelung, wonach die Nachwirkung eines gekündigten Gesamtarbeitsvertrages (GAV) ausdrücklich sichergestellt wird. Es steht den Vertragsparteien grundsätzlich frei, die Nachwirkung der normativen Vertragsbestimmungen zu vereinbaren. So kann beispielsweise aus dem GAV klar hervorgehen, dass die Wirkung von Normen auf dessen Dauer beschränkt ist. In seltenen Fällen ergibt sich aus der Natur von Vertragsbestimmungen, dass ihre Geltung auf die GAV-Dauer begrenzt ist. Meistens regelt der GAV diese Frage aber nicht. Es gilt dann zu prüfen, in welchem Verhältnis die einzelarbeitsvertraglichen und gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen nach der Beendigung des GAV zueinander stehen. In der Lehre wird diese Frage unterschiedlich beurteilt, wobei es im Wesentlichen zwei Auffassungen gibt. 

Ersatz durch gesetzliche Regelung

Ein Teil der Lehre geht davon aus, dass die Bestimmungen des GAV bis zu seiner ersatzlosen Beendigung zwingendes ergänzendes Recht der Einzelarbeitsverträge darstellen, ohne zu deren Inhalt zu werden. Die Einzelarbeitsverträge werden somit nach ersatzloser Beendigung des GAV durch das Gesetz geregelt, um nicht als inhaltloser Vertrag dazustehen. Schwierigkeiten ergeben sich bei diesem Ansatz dann, wenn das Gesetz Punkte, die durch den GAV detailliert geregelt sind, überhaupt nicht oder nur in den Grundzügen konkretisiert. Zudem wird den branchen- und berufsspezifischen Verhältnissen nicht mehr Rechnung getragen. Gegen ein Ersetzen nur einzelner GAV-Normen durch die entsprechenden Gesetzesbestimmungen spricht auch, dass den Parteien des Einzelarbeitsvertrages im Moment der ersatzlosen Beendigung des GAV nicht klar ist, welche einzelnen Inhaltsnormen oder sogar Inhaltsnormbestandteile ersetzt werden sollen. 

Nachwirkung des GAV

Nach der anderen Lehrmeinung bildet der Einzelarbeitsvertrag mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten ein Ganzes. Es ist somit anzunehmen, dass die GAV-Normen nach dem wirklichen Willen der Vertragsparteien auch Inhalt des Einzelarbeitsvertrages wurden, es sei denn, die Parteien hätten zulässigerweise einen abweichenden Inhalt vereinbart. Mit anderen Worten sind die Bestimmungen des jeweils geltenden GAV nach dieser Lehrmeinung ein integrierender Bestandteil der Einzelarbeitsverträge. Nach der ersatzlosen Beendigung des GAV gelten dessen Bestimmungen nur noch – aber immerhin – als vereinbarter Inhalt des Einzelarbeitsvertrages.

Zuerst gilt es jedoch immer zu prüfen, ob die Parteien für den Fall der Beendigung des GAV selbständig etwas geregelt haben oder ob eine Vereinbarung vorliegt, mit der sie inhaltlich in zulässiger Weise von der Regelung im GAV abgewichen sind. Trifft dies nicht zu, so gelten die Normen des dahingefallenen GAV als dem tatsächlichen gegenseitigen Parteiwillen entsprechenden Inhalt des Einzelarbeitsvertrages. Dieser Vertrag gilt so lange, bis ihn die Parteien mittels Vertragsänderung in gegenseitigem Einverständnis oder mittels Änderungskündigung abgeändert bzw. aufgehoben haben. 

Bundesgerichtspraxis

Im Urteil Nr. 4C.74/2003 vom 2. Oktober 2003 hat das Bundesgericht festgehalten, dass die zweite Lehrmeinung (Nachwirkung des GAV) überzeugt, jedenfalls für jene GAV-Bestimmungen, welche die Leistungen der Parteien betreffen. Hier ist davon auszugehen, dass die Parteien ihre gegenseitigen Leistungspflichten auf die für sie gültigen Bestimmungen eines GAV abgestimmt haben. Insofern haben sie den Inhalt des GAV beim Abschluss des Einzelarbeitsvertrages als Vertragsinhalt übernommen. Der Wegfall des GAV verändert dann auch nicht den Inhalt des Einzelarbeitsvertrages. Die Parteien können jedoch anderes vereinbaren, wenn sie dies wollen, unabhängig davon, ob der GAV es zulässt, dass die Parteien den Einzelarbeitsvertrag hinsichtlich bestimmter Punkte individualisieren. 

Für Arbeitsverträge, die vor Inkrafttreten des GAV oder erst nach dessen Beendigung geschlossen worden sind, gilt das Gesagte gemäss Bundesgericht nicht ohne weiteres. Wie es sich aber in diesen Fällen im Einzelnen verhält, darüber hatte das Bundesgericht leider nicht zu entscheiden.

Im vorliegenden Fall wurde der Arbeitsvertrag während der Gültigkeitsdauer des Landes-Gesamtarbeitsvertrages des Gastgewerbes (L-GAV ) 92 geschlossen. Es war nicht nachgewiesen, dass sich die Parteien bezüglich der Ferien- und Feiertage auf eine vom GAV abweichende Regelung geeinigt oder für den Fall der Beendigung des GAV eine spezielle Vereinbarung getroffen hatten. Die Regelung des L-GAV 92 ist damit Vertragsinhalt geworden. Auch nach dem Wegfall des L-GAV 92 haben sich die Parteien nicht über eine Änderung des Vertrages geeinigt. Die Regelung des L-GAV 92 hat somit über deren Gültigkeit hinaus Bestand gehabt und musste angewendet werden.

Kommentar

Auf Grund der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist unter gewissen Umständen mit einer Nachwirkung eines GAV zu rechnen. Um dies – aus welchen Gründen auch immer – zu verhindern, bestehen zwei Möglichkeiten. Einerseits können die Sozialpartner im GAV eine Bestimmung aufnehmen, welche die Wirkung seiner Normen auf seine Dauer beschränkt. Andererseits können die Arbeitsvertragspartner eine klare vertragliche Regelung treffen, wonach der GAV nach seiner Beendigung keine Nachwirkung haben soll und welche Bestimmungen – die gesetzlichen oder andere vereinbarte – die GAV-Normen ersetzen.

Weitere Informationen zum GAV finden Sie im „Handbuch des Arbeitgebers“ im Kapitel I-3.

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